Irgendwie war ich schon immer auch gern allein. In der Pubertät spürte ich, dass ich wirklich mehr „Alleinzeit“ brauchte als andere. Laute Musik und Rauch in Clubs ertrug ich kaum und mied sie. Die Treffen mit der Clique waren für mich deutlich anstrengender, als das Zusammensein mit einzelnen Freunden.
Anders zu sein als andere, ist schwierig. Positive Vorbilder haben mir gefehlt. Also habe ich gelernt mich anzupassen, begleitet vom dumpfen Gefühl mich zu verbiegen. Im Berufsleben würde es besser werden, hoffte ich.
Einstieg in den Beruf
Ich hatte Ehrgeiz: Meine Studien habe ich abgeschlossen, mehrere Qualifizierungen aufgesattelt, gute Arbeitsergebnisse im Job geliefert und dennoch nahm kaum einer Notiz von mir. Immer standen meine „Schwächen“ – zu ruhig, nicht energisch genug, zu detailliert, zu ernst etc. im Fokus.
Erst rückblickend, nachdem ich über viele Jahre in nationalem und internationalem Kontext gearbeitet hatte, erkannte ich den roten Faden.
Ich bin introvertiert
Im berufsbegleitenden Masterstudiengang „Beratung in der Arbeitswelt“ habe ich mich theoretisch und praktisch mit Selbstkonzepten, Bedingungen der Umwelt, Entfaltung und Entwicklung von Menschen und der Integration neuer Erfahrungen auseinandergesetzt.
Insbesondere die Persönlichkeitsmuster und deren Auswirkungen im Arbeitskontext machten mich neugierig. So fiel mir das Buch „Still“ von Susan Cain in die Hände. Der Einblick in unzählige Interviews und Studien war für mich Erklärung und Befreiung zugleich: Ich bin introvertiert und ich bin gut so!
Wie ging es weiter?
Die reine Erkenntnis reichte mir nicht. Ich wollte wissenschaftlich und praktisch ergründen, auf welchem Weg sich Introvertierte entwickeln können.
Daraus ergaben sich für mich zwei Herausforderungen:
- Der Weg muss zu mir passen. Kein Anpassen und Verbiegen mehr.
- Ich möchte als Introvertierte mit Tiefgang und Substanz mehr als meine „Oberfläche aufpolieren“.
Ich begann mich unter anderem mit meinen Werten, dem Selbstbewusstsein, der Sichtbarkeit und der verbalen und nonverbalen Kommunikation intensiv zu beschäftigen. Im Arbeitskontext habe ich meine Erkenntnisse angewandt, bis es sich irgendwann passend und richtig anfühlte.
Das theoretische Wissen, gepaart mit praktischen Erfahrungen, gebe ich heute in strukturierten Prozessen weiter.
Alles gut? Nein.
Meine Vorgesetzten nahmen mich weiterhin als defizitär wahr. Nun konnte ich aber mit dieser Situation umgehen. Ich bemerkte jedoch, dass die unmittelbare Zusammenarbeit mich viel Energie kostet. So suchte ich nach einem Weg.
In der Zusammenarbeit von Introvertierten mit extrovertierten Führungskräften setzen Experten auf Aufklärung, um Konflikte und Missverständnisse zu vermeiden.
Nach dem was ich selbst erlebte, schien mir das Konzept der Aufklärung als nicht ausreichend. So ergab sich mein zweiter Fokus – die Zusammenarbeit mit extrovertierten Führungskräften.
Führung von Introvertierten
Von einer persönlichkeitsorientierten Führung profitieren alle, Introvertierte jedoch ganz besonders.
Letztlich gewinnen die Mitarbeitenden und die Organisation: Wer kann es sich ernsthaft leisten, dass die Hälfte der Mitarbeitenden darauf wartet entdeckt zu werden, Energie verschwendet und / oder Potenzial zurückhält?
„Welche Kompetenz brauchen Führungskräfte von introvertierten Mitarbeitern und wie können sie diese entwickeln?“
Dies wurde zu meiner Kernfrage, die ich heute im Training persönlichkeitsorientiert Führen umsetze.
Perspektivwechsel
Mein Weg brachte mich auf die andere Seite des Schreibtischs. Ich wurde Führungskraft einer Vielzahl von unterschiedlichen Persönlichkeitstypen. Nun standen unter anderem mein Energiemanagement, Fragen der Abgrenzung gegenüber Mitarbeitern und Vorgesetzten und der Umgang mit dem eigenen Anspruch im Fokus.
Was ich lernte: Introversion ist eine Persönlichkeitsausprägung, die mit ihren vielen Vorteilen eine große Führungsstärke entwickeln lässt.