Introvertierte erledigen oft komplexe Arbeit mit einwandfreien Ergebnissen, und werden dennoch bei der Vergabe von lukrativen Stellen übersehen. Was könnten Introvertierte tun, um für Führungskräfte sichtbarer zu werden?
Schauen wir uns das am Beispiel von Anna genauer an. Sie soll für ihren Chef ein Konzept zur Umstrukturierung im Unternehmen erarbeiten. Dafür recherchiert sie gründlich, fasst die Sichtweisen der Experten zusammen und beschreibt die Auswirkungen der einzelnen Alternativen umfassend. Das Ergebnis wird ihr Chef präsentieren.
Anna weiß, was sie leistet und möchte sich in der Organisation weiterentwickeln: verantwortungsvollere Aufgaben oder eine Stelle in der Teamleitung. Sie ist sicher, dass ihr Chef Michael dies genauso sieht. Immerhin war das letzte Projekt wieder auf allen Ebenen ein voller Erfolg. Anna wartet ab, dass Michael auf sie zukommt.
Welches introvertierte Verhalten nehmen Führungskräfte wahr?
Michael nimmt Anna als still und zurückhaltend wahr. Er muss sie meistens direkt ansprechen und nach ihrer Meinung fragen. Manchmal fragt er sich, wo sie mit ihren Gedanken ist, während alle anderen engagiert die aktuellen Themen diskutieren. Annas schriftliche Ergebnisse bewertet Michael jedoch als sehr gut.
Von Annas Wünschen sich weiterzuentwickeln weiß Michael nichts. Er hat noch nie darüber nachgedacht sie zu fördern oder ihr verantwortungsvollere Aufgaben zu geben.
Bedeutung des Sozialverhaltens
Warum schneidet Anna, wie so viele Introvertierte, hinsichtlich der Gesamtbewertung ihrer Leistung schlechter ab? Ihr Sozialverhalten spielt eine wesentliche Rolle:
- Introvertierte denken vor dem Sprechen oder Handeln meist intensiv nach. Das ist für andere jedoch unsichtbar, weshalb sie schnell als passiv, zögerlich oder gar arrogant und einfallslos eingeschätzt werden.
- Introvertierte haben oft ein aktiveres parasympathisches Nervensystem. Das sorgt unter anderem für ein eher langsameres Sprechen und gedämpftes Zeigen von Begeisterung. Daher könnten sie voreilig für weniger kompetent oder engagiert gehalten werden.
- Um soziale Eindrücke zu verarbeiten und Energiereserven aufzuladen, ziehen sich Introvertierte zurück. Das erschwert anderen das Kennenlernen und führt schnell zu der Annahme von sozialer Inkompetenz oder Desinteresse.
So können Introvertierte im persönlichen Kontakt, auf Führungskräfte distanziert bis abwesend wirken. Deshalb werden sie trotz der guten Arbeitsergebnisse häufig übersehen und unterschätzt.
Was Introvertierte brauchen, um selbst aktiv zu werden
Wenn Anna weiter wartet, wird sich die Situation und das Gefühl von Ärger oder gar Resignation nicht ändern. Zur Änderung von Gewohnheiten braucht es Veränderungsenergie. Woher könnte Anna diese nehmen?
- Von der attraktiven Vorstellung ihres gewünschten Ziels.
- Vom schlechten Gefühl in der gegenwärtigen Situation.
- Von den negativen Befürchtungen, wenn alles so bleibt wie bisher.
Selbstverständlich bedarf es ebenso einer gewissen Selbstverpflichtung und Disziplin. Auf die Belohnungssensitivität (Motivation durch sozialen Status, Geld und Einfluss) können sich Introvertierte kaum verlassen. Viel stärker motivierend wirken Aufgaben auf sie, die sie selbstbestimmt erledigen können und die ein gewisses Maß an Komplexität und Verantwortung bieten und vor allem einen Sinn verfolgen.
Es bleibt die Frage, wie es Introvertierten, wie Anna, gelingen kann, für ihren Chef mit ihren leisen Kompetenzen sichtbarer und letztlich gefördert zu werden?
In 3 Schritten bewusst sichtbar werden
Introvertiert Sein
Stärken, Herausforderungen,
Bedürfnisse, Werte
Strategische Analyse und Kompetenzerweiterung
Rollen und Erwartungen des Umfelds,
Kommunikation, Konfliktverhalten
Bewusst Sichtbar Handeln
Stärken wirksam einsetzen,
selbstbewusst auf Entscheidungsträger zugehen,
zielführend kommunizieren
Introvertiert sein
Damit Anna den Job erreicht, der ihren introvertierten Kompetenzen und Leistungen entspricht, ist es wichtig, sich mit ihrem introvertierten Sein auseinander zu setzen. Das klingt möglicherweise banal. Aber dieser erste Schritt ist wesentlich, um sich nicht (weiter) verstellen oder verbiegen zu müssen.
Anna sollte sich ihrer introvertierten Stärken bewusst werden und erkennen, wie bedeutsam diese auch für Führungsaufgaben sind. Dazu gehören etwa Empathie, die Fähigkeit des Zuhörens und eine Zurückhaltung, die ihren eigenen Standpunkt nicht absolut setzt. Mit Hilfe dieser Stärken könnte sie ein Arbeitsklima gestalten, in dem sich Mitarbeitende mit ihrem gesamten Potenzial einbringen.
Gleichzeitig hilft es Anna, ihre Herausforderungen zu kennen, um Strategien für den Umgang mit ihnen zu entwickeln. Zudem sollte Annas erster Schritt auch eine Reflexion ihrer Werte und Bedürfnisse beinhalten, nach denen sie ihr Handeln (unbewusst) ausrichtet. Durch die Bewusstmachung wird ihr Tun für sie erklärbar.
Strategische Analyse und Kompetenzerweiterung
Der zweite Schritt beinhaltet eine strategische Analyse und Kompetenzerweiterung. Anna kann, wie die meisten Introvertierten, hervorragend analytisch und strategisch denken. In diesem Schritt geht es darum, den Fokus auf die Rollen und Erwartungen ihres extrovertierten Umfelds zu richten: Welche ausgesprochenen und unausgesprochenen Erwartungen hat etwa ihr Chef Michael an sie? Wie agieren Anna und ihre Kollegen in Konfliktsituationen?
Im Laufe der Analyse erfährt Anna, wo in ihrer verbalen und auch nonverbalen Kommunikation noch Potenzial liegt. Auch der Umgang mit Konflikten könnte ein Thema sein, das Anna vertiefen sollte.
Bewusst Sichtbar Handeln
Im dritten und entscheidenden Schritt geht es für Anna um bewusst sichtbar Handeln. Sie hat ihr introvertiert Sein (an)erkannt, hat ihr Umfeld analysiert und ihre Kompetenzen vertieft. Nun muss sie praktisch handeln, um ihr Verhalten langsam zu verändern.
Anna beginnt damit, ihre Stärken wirksam mit situativer Flexibilität einzusetzen. In Gesprächen und Präsentationen berichtet sie strukturiert und vor allem zielgruppenorientiert. Des Weiteren geht sie zielgerichtet auf Entscheidungsträger zu und gestaltet die Gespräche mit Michael und weiteren Führungskräften selbstbewusst.
Möglichkeiten zur Umsetzung
Inzwischen gibt es ausführliche Literatur, auch in Form eines Kommunikationstrainings für Introvertierte. Für den sichtbaren Erfolg ist allerdings die praktische Umsetzung des Wissens und das Sammeln neuer Erfahrungen entscheidend. Hierbei sollte Anna in kleinen Schritten vorgehen, da sie sich sonst eventuell überfordert und ihr gestecktes Ziel verwirft.
Eine zweite Möglichkeit ist die individuelle Unterstützung in einem Coaching, in dem Anna eine für sie persönliche Veränderung erarbeiten und ausprobieren kann. Überdies minimiert eine Begleitung bei den einzelnen Schritten die Gefahr der Überforderung.